Ein weiterer wichtiger Baustein auf dem Weg zur Verwirklichung der EU Digital Finance Strategy wurde mit dem europäischen DLT-Pilot Regime gelegt. Innerhalb sog. „Regulatory Sandboxes“ können auf DLT basierende Marktinfrastrukturen mit einer Ausnahmegenehmigung tätig werden.
Am 2. Juni 2022 wurde die finale Fassung der Verordnung über eine Pilotregelung für auf der Distributed-Ledger-Technologie basierende Marktinfrastrukturen ((EU) 2022/858) (kurz: „DLT-Pilot Regime“ oder „DLT-VO“)) nach einem zwei Jahre andauernden Gesetzgebungsverfahren veröffentlicht. Ihren Report bzgl. des DLT-Pilot Regimes veröffentlichte die ESMA am 27. September 2022 (ESMA70-460-111). Der Report enthält Leitlinien zu bestimmten technischen Elementen und Empfehlungen zu überarbeiteten Aufsichtsdaten, um eine kohärente Anwendung durch DLT-Marktinfrastrukturen ab Geltung der Regelung sicherzustellen. Eingebettet ist das DLT-Pilot Regime in das „Digital Finance Package“ der EU-Kommission aus September 2020. Durch das „Digital Finance Package“ soll ein wettbewerbsfähiger Markt innerhalb des Finanzsektors der EU geschaffen werden, der den Verbrauchern einen sicheren Zugang zu innovativen Finanzprodukten ermöglicht. Zu den weiteren bekannten Rechtsakten zählt u.a. die Markets in Crypto-Assets Regulation („MiCAR“), deren finaler Entwurf erst kürzlich beschlossen wurde (siehe unseren Blogbeitrag hierzu).
Am 23. März 2023 werden die Pilotregelungen in Kraft treten und für einen Zeitraum von zunächst drei Jahren gelten. Auf der Grundlage einer Auswertung der DLT-Marktinfrastrukturen und eines Berichts der ESMA und der Kommission wird über eine Verlängerung von bis zu drei weiteren Jahren und ggf. Anpassungen/Änderungen/Ausweitungen des DLT-Pilot Regimes entschieden.
Die Distributed-Ledger-Technologie (z.B. Blockchain) ist seit einigen Jahren in der Finanzbranche auf dem Vormarsch. Die Technologie hat das Potential, die Finanzbranche grundlegend zu verändern und kann neue und effizientere Prozesse in der Wertpapierabwicklung und im Zahlungsverkehr schaffen. Mit dem Gesetz über elektronische Wertpapiere (eWpG) haben Kryptowertpapiere in Deutschland erstmals eine (zivilrechtliche) Regulierung erfahren. Für Kryptowertpapiere wird ein elektronisches Register als Aufzeichnungssystem in Form einer dezentralen (z.B. DLT-basierten) Datenbank geführt. Mit dem DLT-Pilot Regime soll das Potenzial der DLT als Finanzmarktinfrastruktur auf europäischer Ebene genutzt werden. Schwerpunktmäßig geht es um die Schaffung eines zuverlässigen und sicheren Sekundärmarktes für solche Kryptowerte, die Finanzinstrumente i.S.d. MiFID II sind (z.B. Wertpapiere). Auf diese erstreckt sich der Anwendungsbereich des DLT-Pilot Regimes. Nicht unter die Regulierung fallen Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ether. Weitere Einschränkungen hinsichtlich des Anwendungsbereichs ergeben sich aus dem Wert der Finanzinstrumente. So muss der Emittent von Aktien eine Marktkapitalisierung oder eine voraussichtliche Marktkapitalisierung von weniger als 500 Mio. EUR aufweisen. Das Emissionsvolumen bei Anleihen oder anderer Formen verbriefter Schuldtitel muss weniger als 1 Mrd. EUR betragen. Anteile an OGAW fallen nur dann in den Anwendungsbereich, wenn der Marktwert des verwalteten Vermögens weniger als 500 Mio. EUR beträgt. Der Gesamtmarktwert der verbuchten Finanzinstrumente darf die Summe von 9 Mrd. EUR nicht überschreiten. Andernfalls muss die DLT-Marktinfrastruktur eine sog. Übergangsstrategie einleiten, die ihre Abwicklung regelt.
In der Entwicklung eines Sekundärmarktes für von dem DLT-Pilot Regime umfasste Kryptowerte sieht der Verordnungsgeber zahlreiche Vorteile, wie z.B. höhere Effizienz, größere Transparenz und einen verstärkten Wettbewerb bei Handels- und Abwicklungstätigkeiten (Erwägungsgründe, Rn. 4); zugleich aber auch den Bedarf Lücken in der vorhandenen Regulierung zu schließen. Vor diesem Hintergrund ist das DLT-Pilot Regime zu sehen.
Einige Regelungen zum Wertpapierhandel in der EU aus MiFID II und CSDR erschweren derzeit noch den Einsatz der DLT im Wertpapierhandel. Hintergrund ist die für den klassischen Wertpapierhandel notwendige Einbuchung ins Effektengiro eines Zentralverwahrers. In Deutschland ist Träger des Effektengiroverkehrs die Clearstream Banking AG (CBF) als einzige inländische Wertpapiersammelbank, über die Wertpapiere für Übertragungen gebucht werden.
Das DLT-Pilot Regime für DLT-basierte Marktinfrastrukturen soll die Entwicklung der Technologie fördern. Hierzu sollen vorübergehend von einigen spezifischen Anforderungen Ausnahmen gelten, die Betreiber solcher Marktplätze normalerweise erfüllen müssten. Explizit offen steht das DLT-Pilot Regime sowohl etablierten Playern als auch neuen Marktteilnehmern. Unternehmen, die nicht als Zentralverwahrer oder Wertpapierfirmen bereits reguliert sind, können eine entsprechende Erlaubnis und gleichzeitig eine besondere Genehmigung nach dem DLT-Pilot Regime beantragen. Die Behörde prüft dann nicht, ob die Anforderungen für Zentralverwahrer oder Wertpapierfirmen erfüllt sind, sondern ob die DLT-Marktinfrastrukturen im Einklang mit dem DLT-Pilot Regime betrieben werden (sog. „Regulatory Sandbox“).
„Regulatory Sandboxes“ stellen zeitlich und räumlich begrenzte Testfelder dar, in denen innovative Technologien und Geschäftsmodelle unter realen Bedingungen erprobt werden können. Häufig fallen innovative Technologien und Geschäftsmodelle aus dem geltenden Rechtsrahmen. Die Ursache liegt darin, dass die Innovationen zum Zeitpunkt des Erlasses der Normen noch nicht entwickelt waren und deshalb auch keine Berücksichtigung finden konnten. Im Rahmen der EU-Gesetzgebung gilt zwar der Grundsatz der Technologieneutralität. Dieser schließt aber nicht aus, dass die realen Gegebenheiten mit einbezogen werden können. „Regulatory Sandboxes“ nutzen den regulatorischen Spielraum aus. Sie bedienen sich Experimentierklauseln und anderen Flexibilitätsinstrumenten, um von dem bestehenden Rechtsrahmen abweichen zu können. Im Fokus steht nicht nur die Förderung der technischen Innovationen, sondern auch der Blick auf die Anpassung der künftigen Rechtsvorschriften durch die gesammelten Erfahrungen innerhalb der „Regulatory Sandboxes“.[1]
Die Finanzmarktinfrastrukturen sind zentrale Elemente des Finanzsystems und verbinden verschiedene Märkte und Teilnehmer. Das Konzept der DLT-Marktinfrastruktur umfasst
1) Als DLT-MTF gilt ein multilaterales Handelssystem, das von einer Wertpapierfirma oder einem Marktbetreiber betrieben wird, die bzw. der gemäß MiFID II zugelassen ist/sind und gemäß des DLT-Pilot Regimes eine besondere Genehmigung erhalten hat/haben. Ein DLT-MTF unterliegt grundsätzlich den aufsichtsrechtlichen Anforderungen für ein multilaterales Handelssystem (Europäische Finanzmarktverordnung; MiFID II), allerdings mit Ausnahmen. So besteht keine Pflicht zur Meldung von Geschäften (Art. 26 der Verordnung (EU) Nr. 600/2014). Das DLT-MTF führt jedoch Aufzeichnungen über alle über seine Systeme ausgeführten Geschäfte. Die Aufzeichnungen enthalten alle in Art. 26 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 genannten Angaben, die für das von dem DLT-MTF und dem die Transaktion ausführenden Mitglied oder Teilnehmer verwendete System relevant sind. Das DLT-MTF stellt ferner sicher, dass die zuständigen Behörden, die berechtigt sind, die Daten direkt vom multilateralen Handelssystem zu empfangen, direkten und unmittelbaren Zugang zu diesen Angaben haben. Um Zugang zu diesen Aufzeichnungen zu erhalten, wird diese zuständige Behörde als teilnehmender regulatorischer Beobachter zum DLT-MTF zugelassen.
2) Als DLT-SS gilt ein Abwicklungssystem, das von einem zugelassenen Zentralverwahrer betrieben wird, der eine besondere Genehmigung zum Betrieb eines DLT-SS gemäß des DLT-Pilot Regimes erhalten hat. Ein solches DLT-SS unterliegt der Zentralverwahrerverordnung (Verordnung (EU) 909/2014), allerdings wiederum mit Ausnahmen. So hat ein Zentralverwahrer, der ein DLT-SS betreibt, die Möglichkeit, eine zeitlich begrenzte Ausnahme von den Vorschriften der Zentralverwahrerverordnung über den Barausgleich zu beantragen. So kann er im Rahmen der Pilotregelung innovative Lösungen entwickeln, indem der Zugang zu Geschäftsbankgeld oder die Verwendung von „E-Geld-Token“ erleichtert wird.
3) Ein DLT-TSS kann zwei Formen haben.Esist entweder ein DLT-MTF, bei dem die von einem DLT-MTF und einem DLT-SS erbrachten Dienstleistungen kombiniert werden und das von einer Wertpapierfirma oder einem Marktbetreiber betrieben wird, die bzw. der eine besondere Genehmigung für den Betrieb eines DLT-TSS gemäß des DLT-Pilot Regimes erhalten hat. Ein DLT-TSS kann auch ein DLT-SS sein, bei dem die von einem DLT-MTF und einer DLT-SS erbrachten Dienstleistungen kombiniert werden und das von einem Zentralverwahrer betrieben wird, der eine besondere Genehmigung für den Betrieb eines DLT-TSS gemäß des DLT-Pilot Regimes erhalten hat. Ein DLT-SS unterliegt den Anforderungen für MTF und Zentralverwahrer, jedoch mit Ausnahmen. Vor allem Wertpapierfirmen oder sonstige Marktbetreiber können umfassend von Ausnahmen im Hinblick auf die Zentralverwahrerverordnung Gebrauch machen (z.B. über die Abwicklungsinternalisierung, die Zulassungsvoraussetzungen und -Verfahren für Zentralverwahrer sowie von den organisatorischen Anforderungen in Art. 26 und Art. 27 der Zentralverwahrerverordnung).
Durch das DLT-Pilot Regime werden (neben Erleichterungen) im Hinblick auf die Neuartigkeit der Technologie auch zusätzliche organisatorische Anforderungen an die DLT-Marktinfrastrukturen gestellt (Art. 7 DLT-VO). Dadurch soll ein enger Austausch zwischen den zuständigen Behörden, der ESMA und den DLT-Marktinfrastrukturen stattfinden. Die Aufsichtsbehörden untersagen die weitere Ausübung der Tätigkeit, wenn die Anforderungen nicht mehr eingehalten werden. Zu den zusätzlichen Anforderungen zählen u.a.:
Das DLT-Pilot Regime adressiert bereits regulierte Unternehmen wie Zentralverwahrer, Wertpapierfirmen oder Marktbetreiber. Diese können unter bestimmten Erleichterungen (aber auch mit den zusätzlichen Anforderungen der Verordnung) DLT-Marktinfrastrukturen betreiben. Bei den Wertpapierfirmen muss es sich nicht um MTF-Betreiber handeln, auch andere Lizenzen (z.B. eine bloße Anlagevermittlungslizenz) genügen, um das DLT-Pilot Regime zu eröffnen. Das DLT-Pilot Regime ermöglicht auch bislang nicht regulierten Unternehmen der DLT-Branche einen (einfacheren) Weg zu einem regulierten Marktinfrastrukturbetreiber. Dazu wird bei der jeweiligen zuständigen Aufsichtsbehörde eine entsprechende MiFID II-Lizenz als Wertpapierfirma unter Anwendung des DLT-Pilot Regimes beantragt. Für solche Unternehmen kommen sowohl die Erlaubnis für ein DLT-MTF als auch ein DLT-TSS in Betracht. Allein das DLT-SS (ohne zusätzliches DLT-MTF) steht nur Zentralverwahrern offen. Im unlängst veröffentlichten Annual Work Programm 2023 der European Securities and Markets Authority (ESMA) wurde bereits angekündigt „Guidelines on the templates for permission under the DLT Pilot regime” zu veröffentlichen.
[1] vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Freiräume für Innovationen – Das Handbuch für Reallabore, Abschnitt 3, Stand Juli 2019.